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März 2024

Die Partnerschaft von Mut und Verletzlichkeit

Woran denken Sie, wenn Sie das Wort Mut hören? Vielleicht an die „Mutproben“ in unserer Kindheit, als wir meinten, unseren Mut gegenüber anderen beweisen zu müssen? Zum Beispiel damit, von einer Mauer zu springen, etwas Ekliges zu trinken oder eine Spinne in der Hand zu halten?

Oder an die heutigen Internet-„Challenges“, die der klassischen Mutprobe ein neues Gesicht gegeben haben und für viele Jugendliche eine starke Versuchung, aber auch Gefährdung darstellen? Wie etwa bei der "Cinnamon Challenge", bei der ein Löffel Zimtpulver geschluckt werden sollte, oder der "Choking Challenge", bei der Jugendliche sich selbst bis zur Bewusstlosigkeit würgen sollten und es sogar zu Todesfällen gekommen ist?

Oder denken Sie an die breitschultrigen Helden in Büchern, Filmen, Comics und Computerspielen, die wie James Bond, Indiana Jones oder die Avengers-Superhelden aus der Marvel-Welt unerschrocken und unbesiegbar jede Herausforderung anscheinend mühelos bewältigen?

Wenn ich heute hier für Sie über Mut schreibe, denke ich an all das nicht. Nicht an Waghalsigkeit, Übermut oder Mutwillen. Denn das hat für mich mit dem Mut, wie ich ihn verstehe, wenig zu tun.

Mutproben oder Challenges suggerieren, dass man Mut anderen beweisen kann. Doch Mut lässt sich nicht an irgendwelchen Normen messen, sondern er betrifft immer unser eigenes Herz und kann auch nur daran gemessen werden. Und zur vielen Helden zugeschriebenen Furchtlosigkeit gehört auch kein wirklicher Mut – eben weil keine Furcht da ist, die überwunden werden müsste.

Mut hat für mich immer mit etwas zu tun, was die meisten von uns vermutlich gar nicht mit Mut in Verbindung bringen würden, das für mich aber untrennbar dazu gehört: unsere Verletzlichkeit.  

Brené Brown, die US-amerikanische Verfasserin zahlreicher psychologischer Sachbücher, hat gesagt: „Du kannst nicht zu deinem Mut gelangen, wenn du nicht durch deine Verletzlichkeit wanderst.“ Diesen Zusammenhang zwischen den beiden Herzensressourcen Mut und Verletzlichkeit möchte ich heute mit Ihnen tiefer ausloten.

 

Augen zu und durch

Auch wenn wir das oft meinen: Es gibt nicht so etwas wie den Mut an sich. Sondern er hat jeweils etwas mit unserem eigenen Gefühl, mit unserem inneren Risikoempfinden zu tun. Bei Mut geht es also um eine Art von Beherztheit oder Entschlossenheit, sich etwas zu trauen, was entweder objektiv oder noch öfter einfach subjektiv gefährlich ist.

Deshalb ist unser Mut eine Antagonistin zu unserer Angst vor Verletzlichkeit. Genau wie sie hat der Mut zwar auch etwas mit Kopf, aber viel mehr mit Herz zu tun. Er ist ein starkes Gefühl, und er ist eine Herzensangelegenheit und erfordert, wenn Sie so wollen, eine Herzöffnung: Wir müssen uns, wenn wir mutig sein wollen, durch unsere eigene Verletzlichkeit hindurchbewegen. Die ist so etwas wie das ganz subjektiv gefühlte Maß unseres Risikos.

Denn wir alle müssen, wenn wir Risiken angehen, eine innere Spannung aushalten, sonst würden wir sofort ängstlich weglaufen. Wenn es nichts gibt, was uns innerlich wirklich herausfordert oder erschreckt, brauchen wir keinen Mut. Den benötigen wir immer nur, wenn für uns ein ungewisser Ausgang damit verbunden ist.

Das aber ist nicht bei jedem von uns identisch. Mut ist etwas ganz Persönliches, weil er immer im Verhältnis zu dem gesehen werden muss, was uns Angst macht, was uns angreifen und verletzen könnte. Die Angst in uns versucht, uns da durch Risikovermeidung zu schützen, wo wir verletzlich sind.

Und das ist bei jedem Menschen anders: Für manche kann schon jede Begegnung mit anderen Menschen eine Mutprobe sein, für andere ist es ein Auftritt vor einer größeren Versammlung, und für einige ist es eine Flugreise oder die Fahrt mit einem Aufzug.

Wieder andere empfinden es als schwer, sich einem beruflichen oder privaten Konflikt zu stellen, oder wenn sie in einen Kontakt gehen mit einem Menschen, der ihnen viel bedeutet, und es riskieren, ihm etwas zu erzählen, was sehr persönlich ist. Wenn sie sich also öffnen und nicht wissen, was der andere dann über sie denkt.

Das erfordert den Mut, zu sich selbst zu stehen und zu sagen: Okay, ich bin jetzt authentisch, und ich zeige mich so, wie ich bin, und nicht so, wie ich glaube, dass ich sein sollte. Das könnte der andere vielleicht auch ausnutzen, und genau da liegt in diesem Fall die Verletzlichkeit.

Gemeinsam ist diesen Herausforderungen nur: Mutig sein ist immer etwas, das außerhalb der Komfortzone stattfindet. Alles das sind dann durchaus Mutproben, die aber nicht das Ziel haben, anderen, die uns auf die Probe stellen wollen, etwas zu beweisen. Sondern wir selbst erproben, wie viel Mut wir haben, und da geht es eben nicht um einen Wettbewerb mit anderen, sondern um eine innere Konfrontation mit unserer Verletzlichkeit.

Waghalsigkeit, die wir oft mit Mut verwechseln, vermeidet diese Konfrontation eher: Wer waghalsig ist, verdrängt das Risiko, denkt nicht weiter darüber nach, er wird nur von außen betrachtet als mutig eingeschätzt. „Augen zu und durch!“ ist das Motto dieser Haltung.

Wenn wir dann einfach tolle, verrückte Sachen machen, die uns triggern, handelt es sich weniger um Mut als um Neugier – und zuweilen vielleicht auch nur um einen Ausbruch aus einer empfundenen Langeweile. Und wenn wir es tun, um andere zu beeindrucken, steht vor allem der Wunsch nach Anerkennung dahinter.

 

Augen auf und durch

Wirklicher Mut bedeutet eher: „Augen auf und durch!“ Er ist immer an solchen Stellen am größten, wo es zu einer Auseinandersetzung mit meinem eigenen inneren Risiko kommt, mit der Ungewissheit, was geschehen wird, mit der Angst vor dem Scheitern, vor einem Verlust oder irgendwelchen Katastrophen, die mir widerfahren könnten.

Mut, so verstanden, besteht darin, die eigene Verletzlichkeit wahrzunehmen. Erst in dem Moment, wo ich sie spüre, kann ich auch die Entscheidung treffen: Ich mache es trotzdem!

Wie in dem Beispiel, von dem mir ein Bekannter berichtet hat. Er hatte als Kind und auch noch zu Beginn des Teenageralters immer eine riesige Angst vor der Blutabnahme beim Arzt, darüber aber weder offen gesprochen noch sich damit innerlich auseinandergesetzt. Er dachte einfach, er müsste den Helden spielen. So ging er schon ganz verkrampft zum Arzt, bis ihm dann immer wieder während oder kurz nach der Blutabnahme (die damals häufig noch im Stehen durchgeführt wurde) schwarz vor Augen wurde und er umzufallen drohte.

Irgendwann in der Pubertät hatte er dann begonnen, sich mit der Angst zu beschäftigen, und sprach nun vor der Blutabnahme seine Angst offen an und bat darum, sie im Sitzen durchzuführen. Von dem Tag an war er nie mehr in dieser Situation zusammengeklappt.

Und nicht nur das: Die Ärzte und Sprechstundenhilfen waren – für ihn unerwartet – sehr wertschätzend mit seiner Offenheit umgegangen und hatten ihn nicht ausgelacht oder abfällig reagiert. Seine unbewusste Annahme, er müsse dieser Situation in der Erwartung der anderen auf eine bestimmte Weise, nämlich „männlich“ und unerschrocken gegenübertreten, erwies sich als nicht zutreffend, es gab durchaus eine Alternative.

Sein Mut hatte etwas mit Herzöffnen zu tun, nicht nur, weil er sich für seine Verletzlichkeit geöffnet hatte, sondern weil er damit auch Vertrauen signalisierte: Er trat ehrlich auf, ganz in seiner Integrität, war ganz da, und er tat nicht länger so, als wäre er irgendwie anders. Er war einfach authentisch anwesend, gab sich nicht länger cooler, als er war, sondern hatte den Mut, dazu zu stehen, dass ihm das etwas ausmachte. Und in dem Moment wurde es leichter.

Das Entscheidende ist dabei übrigens gar nicht einmal die Kommunikation nach außen, sondern vor allem die nach innen. Die Wahrnehmung bezieht sich also erst einmal auf mich selbst. Wenn ich immerzu versuche, einen wunden Punkt zu kaschieren mit einer Art Make-up oder damit, die Zähne zusammenzubeißen oder ähnlichem, dann zieht die Ausgrenzung und Ablehnung des Teils in mir, den ich vor mir selbst zu verbergen versuche, ungeheuer viel Energie.

Der Mut besteht dann an der Stelle eben darin, mir selbst zu sagen: Das ist „okay“, es ist auch ein Teil von mir, etwas, was zu mir gehört. Das heißt nicht unbedingt, dass ich anderen Menschen sofort davon erzähle. Sondern indem ich es einfach nur für mich selbst wahrnehme und zulasse, werden die anderen mich bereits anders wahrnehmen, und sie werden dann anders mit mir in Kontakt treten. Weil sie eben nicht nur meine Worte wahrnehmen, sondern auch meine nonverbalen Botschaften.

Das scheinbar Paradoxe daran ist: Wir glauben immer, wenn wir uns unserer Verletzlichkeit annehmen, also mutig sind und sie zeigen, dann wird es schlimmer, weil das ja womöglich dann von anderen irgendwie ausgenutzt oder bestraft werden könnte. Meistens machen wir aber, so wie mein Bekannter, eine ganz andere Erfahrung.

 

Verletzlichkeit bedeutet Lebendigkeit

Ich habe eingangs davon gesprochen, dass Mut und Verletzlichkeit gleichermaßen Ressourcen darstellen. Es mag sein, dass Sie das zunächst in Bezug auf die Verletzlichkeit überrascht. Mut, ja, den können wir uns gut als Ressource vorstellen, auf die wir zurückgreifen, wenn wir Angst haben. Aber Verletzlichkeit? Ist das nicht eine Schwäche, von der es besser wäre, wir hätten sie gar nicht erst?

Ich sehe das anders. Wenn wir nicht verletzlich wären, könnten wir uns gar nicht entwickeln. Verletzlichkeit bedeutet Lebendigkeit – wir sind verletzlich, weil wir lebendige – und damit für Störungen anfällige – Systeme sind. Doch gerade deswegen können wir uns auch weiterentwickeln. Und es braucht Mut, damit wir diese Verletzlichkeit annehmen und dadurch in unsere Persönlichkeit integrieren. Ohne Verletzlichkeit gibt es überhaupt keine menschliche Entwicklung.

Es ist also ein Missverständnis, wenn wir unter Ressourcen nur offensichtliche Stärken wie Ruhe, Gelassenheit, Kraft und Mut verstehen und die Verletzlichkeit folglich als eine Schwäche sehen. Sowohl der Mut als auch die Verletzlichkeit sind Quellen, aus denen wir schöpfen können, das heißt Ressourcen.

Das Missverständnis, wonach Ressourcen immer nur klassische Stärken sein sollen, beruht auf einem weiteren, tieferliegenden Missverständnis: dass wir idealerweise stark sein müssen, damit es uns gut geht. Aber das stimmt nicht immer. Eigentlich geht es uns eher dann wirklich gut, wenn wir auf gute Weise mit uns selbst verbunden sind. Erst von da aus, wo wir die Person verkörpern, die wir sind, können wir uns weiterentwickeln, und das erfordert manchmal Mut – weil es zum Beispiel nicht unseren Vorstellungen oder auch den für uns maßgeblichen Konventionen entspricht.

Denn wir tragen alle Verinnerlichungen von dem, was wir als Kinder gelernt haben, mit uns herum. Doch werden diese Verinnerlichungen uns im Erwachsenenleben oft nicht gerecht, und dann machen sie uns Probleme. Wir versuchen deshalb so zu sein, wie wir glauben, dass wir richtigerweise sein sollten, und stoßen dabei zunehmend an unsere Grenzen. An der Stelle meldet sich unsere Verletzlichkeit.

Im Kontext mit dem Mut besteht zur Verletzlichkeit hier fast so eine Art von Partnerschaft. An den Stellen, wo ich weicher werden kann – genau da finde ich die Herzöffnung, also diesen Mut, um mich spüren und sagen zu können: Hey, das bin ich!

Dieser Mut, sein Herz zu öffnen, ist alles andere als bequem. Mut und Bequemlichkeit schließen einander sogar aus. Denn dieser Mut erfordert auch immer eine Art von Aktivität, die wir nicht auf der Couch erreichen. Vielleicht klingt das für Sie im ersten Moment selbstverständlich, aber ich erlebe es oft, dass Menschen erwarten, der Mut müsse erst zu ihnen kommen, nach dem Motto: Damit ich mutig sein kann, muss ich mich erst mutig fühlen.

Doch das ist eher ein Mythos. Denn eigentlich muss ich mir den Mut für mich selbst ein Stück weit erarbeiten – indem ich mich etwas traue. Darüber werde ich in einem meiner nächsten Blogbeiträge etwas ausführlicher schreiben.

 

Die Feuerquallen

Für heute will ich Ihnen aber zuletzt noch ein aktuelles persönliches Erlebnis erzählen, das mit Mut und Verletzlichkeit zu tun hatte. Ich war auf Urlaub in Thailand, bin geschnorchelt und hatte unvergessliche Begegnungen mit wunderschönen Fischschwärmen. Nun gibt es aber dort im Meer Feuerquallen, und ich habe eine sehr empfindliche Haut und habe zum Beispiel auch, wenn ich von Insekten gestochen werde (und ich werde leider häufig gestochen), immer gleich dicke „Flatschen“ (siehe dazu auch meinen Blogtext „Der Ghostbuster im Moskitonetz“).

Solange ich die Feuerquallen im Wasser nur vom Hörensagen kannte, war alles gut, das Schnorcheln war völlig unbeschwert. Aber dann kam der Tag, an dem eine Feuerquelle in meiner Nähe trieb, und von da an war sie in meinem Bewusstsein. Und ich dachte ernsthaft darüber nach, ob ich jetzt überhaupt noch mal schnorcheln gehen sollte.

Wie konnte ich es schaffen, beim Schnorcheln die schönen Fische wahrzunehmen und nicht dauernd irgendwelche Quallen vor meinem inneren Auge, die mir die Erfahrung vermiesten? Diese Balance zu finden zwischen dem „Es könnte ja sein, dass eine Qualle kommt“, also meiner Verletzlichkeit, und der Aussicht auf das einmalige Schnorchelerlebnis war eine tägliche Aufgabe für mich.

Ich wog ab, wie verletzlich ich war, also wie groß meine Angst vor Quallen war. Es gab zum Beispiel einen Tag, da sah ich bei einem Spaziergang alle fünf Meter eine Qualle im Meer. Da ergab meine Risikoabwägung, dass ich an diesem Tag nicht ins Meer ging.

Das klingt jetzt vielleicht nach einer sehr rationalen Abwägung, aber von meinem Gefühl her war es überhaupt nicht rational, es war eine Beschäftigung mit all meinen Empfindungen, also mit meiner Verletzlichkeit. Nur daraus konnte ich den Mut schöpfen, weiter schnorcheln zu gehen oder auch zu sagen: „Heute nicht!“.

Das hätte ich nicht gekonnt, wenn ich mich nicht meiner Verletzlichkeit gestellt hätte. So wie in dem bereits eingangs zitierten Satz von Brené Brown: „Du kannst nicht zu deinem Mut gelangen, wenn du nicht durch deine Verletzlichkeit wanderst.“